[quote style=“1″]Wir werden uns viel zu erzählen haben, wenn wir uns einmal wiedersehen. 1[/quote]
Im Sommer 2010 erfuhren wir von der Existenz der Briefe: 675 Einzelbriefe, verpackt in 106 Rundbriefe, wurden zwischen den Jahren 1938 und 1953 von ehemaligen Schülern unserer Schule verfasst.
Diese Schüler, Jahrgang 1922, besuchen im Schuljahr 1937/38 die 6B-Klasse und müssen sie nach dem Einmarsch Hitlers verlassen. Sie verabschieden sich auf der Schwedenbrücke in eine ungewisse Zukunft, sie „wissen nur, dass sie aus Wien weg müssen, jedoch den Kontakt zueinander nicht verlieren wollen. Sie versprechen einander nicht nur zu schreiben, sondern hecken einen komplizierten Plan für eine Art Rundbrief aus. Aus dem Versprechen entsteht eine erstaunliche Korrespondenz und somit ein bedeutendes historisches Dokument […] zur Exil- und Emigrationserfahrung.“ 2
Seit dem Schuljahr 2010/2011 arbeiten SchülerInnen des Wahlpflichfachs Centropa an der Installation der Erinnerung.
Die Originalbriefe liegen im „Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich“ in Graz, die Jahre 1938 bis 1942 sind digitalisiert und daher für uns zugänglich.
Verfasser der Rundbriefe sind: Paul Berkovits, Artur Kupfermann, Joachim Felberbaum, Otto Fried, Alfred Hechter, Kurt Jolles, Hans Kautsky, Wilhelm Mandl, Paul Schiller, Robert Singer, Friedrich Urbach, Georg Wallis. Die Briefe dokumentieren die Schicksale dieser Flüchtlinge, sie geben Einblick in die unterschiedlichen Geschichten der Vertreibung, sie erzählen von den Schwierigkeiten, in andere Länder zu gelangen und dort Fuß zu fassen. Auszüge aus den Briefen des ersten Jahres belegen dies.
Wien, am 11. August 1938. Alfred Hermon an Hans Kautsky:
Bin Tag und Nacht mit der Organisierung unseres Briefwechsels beschäftigt. Freue mich, daß es Dir nun gut geht. Sonst nichts Neues. Schalom Ali
St. Gallen, 26. August 1938. Paul Berkovits an die Freunde:
Auf Deine Nachrichten, Otto, aus dieser famosen Schule, bin ich schon sehr neugierig. Dieser Vormittags-Nachmittagsunterricht erweckt ja in mir direkt wehmütige Erinnerungen, die auch Ali haben wird. Mir kommt es vor, als wäre das vor Jahren gewesen, so viele Veränderungen habe ich seither mitgemacht, dabei führe ich noch ein ruhiges Dasein, im Verhältnis zu anderen.
Piest’any, 4. September 1938. Artur Kupfermann an Hans Kautsky:
Heißgeliebter Xaverl!
Wenn auch vorläufig noch nicht alles so ist, wie Ihr es wünscht, so seid Ihr doch wenigstens aus dieser widerlichen Hölle draußen und ich zweifle nicht daran, daß es Euch in Kürze gelingen wird, eine neue Existenz aufzubauen. Daß Du Deinen guten Humor und Deinen Optimismus nicht verloren hast, sieht man ja aus Deinem Brief.
Was nun mich betrifft: Um es kurz zu machen, ich bin nach endlosen Schwierigkeiten am 21.VIII. von Wien weggefahren, bin seit damals hier in diesem öden Nest. Zu berichten gibt es außergewöhnlich wenig, höchstens, daß hier Juden mit Bärten herumlaufen, wie in Wien jetzt die Gliederungen der Partei (nämlich nicht in der Uniform, sondern nur so häufig). Meine Eltern haben aus London Nachricht bekommen, daß unsere Angelegenheit wegen Wohnrecht günstig steht. Wenn sich nur alles nicht so ziehen möchte!
Wien, 30.VIII. und 31. VIII. 1938. Alfred Hechter an die Freunde:
Otto erhält zwar meinen Brief ungebührlich spät, aber in einem Moment, wo wir auf der europäischen Landkarte umhergeschüttelt werden, darf es nichts ausmachen. […] Von Urbach habe ich keine Verständigung, von Schiller weiß ich überhaupt nicht, ob er noch hier ist, ich glaube aber schon. Ich bin weiter außerordentlich beschäftigt, ohne besondere Resultate, was, wie Ihr sicher wißt, jeder Beschäftigung einen eigenartigen Reiz verleiht. Gestern war ich im Palästinaamt, es ist ein wahres Tollhaus.
31.VIII.1938. Heute, an einem entsetzlich regnerischen Tag, machte ich mich auf und fuhr von der Praterstraße zum Westbahnhof. Ich kam als Wasserleiche an und wartete. Ich war vollkommen überzeugt, daß ich Paul nicht zu sehen bekommen würde. Um 1/4 10 Uhr sah ich ihn plötzlich mit seinem Vater vorbeihasten. Ich rief ihn mit einem scharfen gss-gst und er kam zu mir zur Perronsperre. Wir wechselten zehn kurze Minuten Belanglosigkeiten. Verabschiedeten uns um zehn Minuten zu früh, und werden uns, wer weiß wann? wiedersehen.
St. Gallen, 8. September 1938. Paul Berkovits an die Freunde:
Meine Lieben!
Ich bin heute, Mittwoch, 8. September, hier in St. Gallen angelangt. Vieles, was ich Neues und Interessantes sah, werde ich vielleicht schreiben können, ob ich Euch aber das Andere, Seelische, Aufrichtende werde schildern können? Für jetzt will ich nur sagen, daß ich in 8 Tagen hier mein seelisches Gleichgewicht besser gefunden habe als in 4 Monaten in Budapest. Ihr könnt es mir aber glauben, daß ich über – oder gerade wegen – meiner verhältnismäßig guten persönlichen Lage alles Übrige nicht vergesse, ich habe zuviel Verwandte und Freunde in bitterster Not, denen ich nicht helfen kann und nehme auch Anteil an dem Schicksal der vielen Unbekannten. Im Handumdrehen kann ich und meine Eltern in derselben Lage sein … So gehn wir jetzt wieder an die Arbeit, Ziel in der Ferne. Jetzt wünsche ich Euch allen guten Erfolg in Euern persönlichen Sorgen und hoffe, pünktlich Euere Nachrichten zu bekommen. Herzlichst grüßend bleibe ich Euer Paul
Als Leitprinzip gelte stets: bei Änderungen sofort Adresse angeben, damit nie der Kontakt verlorengeht.
Haslemere, 29. Oktober 1938. Georg Wallis an die Freunde:
Liebe Freunde!
Vielen Dank, daß Ihr nun auch mich in die Korrespondenz einschließt; es war wirklich eine ganz ausgezeichnete Idee, weiter miteinander im Kontakt zu bleiben. Es ist mir zwar noch einiges nicht ganz verständlich, z.B. warum denn kein Brief von Ali beiliegt! Denn das würde mich ja ganz besonders interessieren, wie es meinen Freunden geht, die noch in Wien sind. Ich werde mich aber sicherlich bald auskennen. Nur eine Schwierigkeit besteht: Wir dürfen nicht täglich schreiben, sondern nur Mittwoch und Samstag und Sonntag.
Ich habe durch einen unbegreiflichen Glücksfall einen Platz an einer deutschen Emigrantenschule bekommen. Der Unterricht wird von englischen Professoren geleitet, die kein Wort Deutsch können. Es sind ungefähr dieselben Gegenstände wie in Wien, leider keine Chemie, Gott sei Dank weder Latein, noch Französisch, noch Religion. Es ist ganz erstaunlich auf welcher niederen Stufe der Unterricht, mit Wien verglichen, steht. Wir lernen zum Beispiel in Mathematik jetzt das, was wir in Wien in der 2. und 3. Klasse Mittelschule lernten.
Prag, 2. Dezember 1938. Arthur Kupfermann an Hans Kautsky:
Lieber Xaverl!
Endlich einmal eine günstige Nachricht: Ich han mîn Visum 1, all die werlt, ich han mîn Visum. Das heißt also in Neuhochdeutsch übersetzt, ich habe heute endlich mein Visum bekommen. Leider sind aber die Plätze der Flugzeuge stark belegt, so daß ich erst in ca. 2 Wochen werde fliegen können. Das heißt, wenn nichts dazwischen kommt, werden wir uns zwischen 12. und 20. Dezember in London sehen. Bis dahin wünsche ich Dir alles Gute und verbleibe mit herzlichsten Grüßen an Dich und Deine lieben Eltern, Dein Artur
Cincinnati, 18. Dezember 1938. Wilhelm Mandl an die Freunde:
Meine Lieben! Bin mit meinen Eltern nach einwöchigem Aufenthalt in New York jetzt schon seit 2 Monaten in Cincinnati, Ohio. Wir hatten sehr viel Glück unter den anwesenden 400 Immigranten, denn mein Vater erhielt schon nach 14 Tagen eine Stellung in einer Benzin-Tankstation, und er hat schon eine neue, bessere in einem zahntechnischen Laboratorium, die er nach Weihnachten antreten wird. Ich gehe hier seit 7 Wochen in die Automotive-High School, wo ich einen zweijährigen Kurs – täglich 7 Stunden, mit Lunch in der Schule – besuche, in dem ich zum „Autotechniker“ ausgebildet werde. Wir haben eine winzige 2-Zimmerwohnung, die nur 5 Minuten von meiner Schule entfernt ist. Trotz aller dieser Annehmlichkeiten haben wir uns doch noch nicht eingelebt.
Narberth, 23. Dezember 1938. Friedrich Urbach an die Freunde:
Liebe Freunde!
Heute, am Tag vor Weihnachten, bekam ich Euren Brief und Willys. Mein Vater hat hier eine Stellung und ich gehe in die Highschool, die fabelhaft schön und interessant ist. Sie ist sehr leicht. Ich wohne hier in einem Vorort von Philadelphia, der zum Unterschied von der Stadt, sehr rein ist und wie Grinzing aussieht. Wenn man einen Ausflug machen will, muß man zuerst fünfzig bis sechzig Meilen (achtzig Kilometer) weit fahren, dann kann man zwei Stunden in der Ebene hatschen. Skilaufen ist in der Umgebung unmöglich, die Leute hier besitzen so etwas wie Bindungen gar nicht, sondern haben nur einen Lederstreifen um den Schuh.
Im Wahlpflichtfach Centropa arbeiteten wir mit den digitalisierten Briefen, die ab Kriegsbeginn auf Englisch verfasst sind. Aus dieser Beschäftigung heraus ergab sich der Wunsch, den ehemaligen Schülern der Stubenbastei wieder einen Platz an der Schule zu geben. Mehrere Projekte wurden in diesem Zusammenhang in den letzten eineinhalb Jahren umgesetzt:
1 Anspielung auf ein Gedicht Walthers von der Vogelweide, das mit den Worten „Ich han min lehen, al die werlt, ich han min lehen“, beginnt und in welchem er seiner überschwänglichen Freude über den Erhalt eines Lehens Ausdruck verleiht
Eine Auswahl der Briefe aus den ersten zwei Jahren wurde als Hörbuch produziert. Jeder Schüler, jede Schülerin ist „Pate“ zweier ehemaliger 6B – Schüler und liest aus deren Briefen.
Die CD „Wir werden uns viel zu erzählen haben, wenn wir uns einmal wiedersehen“ mit Auszügen aus den Rundbriefen ist hier erhältlich.
An zentraler Stelle im Schulhaus wird das Projekt genauer beschrieben und die Stationen der Emigration der genannten Schüler wurden als Wandkarte sichtbar gemacht.
Regina Erdinger und Sieglind Gabriel (2012)
1 Brief vom 27. Juli 1939 von Alfred Hechter aus Peta-Tiquva, Palästina, an Wilhelm Mandl
2 Univ. Prof. Jacqueline Vansant, amerikanische Germanistin an der University of Michigan-Dearborn, in ihrem Aufsatz: „Damit nie der Kontakt verloren geht“: Rundbriefe Wiener Gymnasiasten jüdischer Herkunft 1938-1942. S. 1. Prof. Vansant verdanken wir die Information über die Rundbriefe