Egon Schwarz

Begegnung mit Prof. Egon Schwarz

„Ich habe diesmal mehr als bei früheren Gelegenheiten zu meiner Freude festgestellt, dass die Schule, an der Sie wirken, und die Schule, in die ich gegangen bin, nur das Gebäude und den Namen gemeinsam haben.“

Diesen Satz schreibt Professor Egon Schwarz in seiner E-Mail, die er uns am 27.11.2009, nach seinem Besuch im Rahmen der Unverbindlichen Übung „Centropa“, schickte. In „Centropa“ beschäftigen wir uns mit den Lebensgeschichten Überlebender des Holocaust und der Gestaltung einer Website, in der wir unsere Schule vorstellen. Bei unseren Recherchen trafen wir auf einen ehemaligen Schüler der Stubenbastei, Egon Schwarz, und hatten Gelegenheit, ihm einige Fragen zu stellen.

Egon Schwarz wurde am 8. August 1922 in Wien geboren und lebte mit seinen Eltern Erna und Oskar Schwarz in der Geologengasse im dritten Bezirk. 1938 wurde er aus dem Gymnasium Stubenbastei ausgeschlossen und musste mit seinen Eltern über Prag und Paris nach Bolivien flüchten. Die nächsten zehn Jahre arbeitete er in Bolivien, Chile und Ecuador und schließlich gelang ihm die Einreise in die USA, wo er Jus, Germanistik und Romanistik studierte. 1954 promovierte er an der Washington University of St. Louis, ab 1963 war er dort Professor am Department of Germanic Languages and Literatures. Seine umfangreiche Publikationsliste enthält auch seine Autobiographie „Keine Zeit für Eichendorff“. Obwohl er darin seine Schulzeit nicht positiv darstellt, erklärte sich Prof. Schwarz bereit, seine alte Schule zu besuchen.

Am Freitag, den 20. November 2009 kam er in Begleitung von Frau Univ. Prof. Irene Lindgren, Germanistin und ehemalige Studentin von Prof. Schwarz, zu uns. Obwohl wir ihn bereits einige Tage zuvor bei seiner Buchpräsentation in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur gesehen hatten, waren wir von seiner Vitalität beeindruckt. Bei Kaffee und Kuchen sprachen wir mit ihm in der Schulbibliothek über sein Leben. Er erzählte ausführlich von seinen Erfahrungen in Wien, Südamerika und den USA, wo er heute noch lebt. Wir hatten während des Interviews den Eindruck, dass es ihm schwer fällt, über die Zeit des Nationalsozialismus zu reden und die Schule wiederzusehen. Dennoch beantwortete er unsere Fragen sehr offen und ausführlich. Diese Begegnung war eine wichtige Erfahrung für uns und eine Bereicherung.

Selina Götz und Alexander Kulo (2009)

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Interview mit Prof. Egon Schwarz

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Meine erste Frage ist, ob Sie Geschwister haben.

Nein, ich habe keine Geschwister, ich bin alleine aufgewachsen. Und das hat auch sehr viel mit meinem späteren Leben zu tun, denn ich hatte ja keine Spielkameraden. Außerdem war Wien damals sowieso eine bedrückte Stadt, es gab sehr wenig sozialen Verkehr unter den Menschen, ich war sehr viel allein zu Hause. Ich habe stattdessen gelesen. Und ich bin ein Leser geblieben.
Aber es spielt eine große Rolle im Leben, wenn man keine Geschwister hat. Irène hatte neun Geschwister, daher hat sie eine ganz andere Erfahrung gemacht.

(Irène Lindgren: Deswegen merke ich auch, dass er sehr verwöhnt ist, als Einzelkind.)

Welchen Beruf haben Ihre Eltern ausgeübt?

Mein Vater kam aus der österreichischen Provinz, aus der österreichisch-ungarischen Provinz. Er war eigentlich für den Kaufmannsstand ausgebildet. Aber kaum war er hier in Wien angelangt, brach der Erste Weltkrieg aus und dann war er vier Jahre Soldat. Nach dem Krieg hat er alle möglichen Versuche angestellt. Das müsst ihr euch einschärfen, wenn ihr geschichtlich wissen wollt, was hier los war, das hat auch mit der Beschaffenheit der Schule etwas zu tun: Wien war eine ganz deprimierte Stadt, und ich glaube nicht, dass es viele Österreicher gab, die geglaubt haben, dass sie selbstständig existieren konnten. Es war eine riesige Arbeitslosigkeit, die Arbeitslosenunterstützung lief sehr schnell aus. Die Übriggebliebenen waren die so genannten „Ausgesteuerten“, das waren die, die nichts mehr bekamen und nichts mehr hatten, keinen Beruf, keine Anstellung und keine Unterstützung. Und dann waren die Straßen voll von Bettlern, in den Hinterhöfen waren die Orgelmänner. Als Kind durfte man zehn Groschen in Papier einwickeln und in den Hof hinunterwerfen. Also, meine Kindheit war geprägt von Mitleid für die anderen Menschen. Und ich glaube, das hat auch mein politisches Bewusstsein sehr früh bestimmt. Ich bin immer ein Linker gewesen und immer noch geblieben.

Aber die Frage habe ich noch nicht ganz beantwortet, denn mein Vater hat zuerst ein Papiergeschäft gehabt, das nicht gut gegangen ist. Dann hat er die Augarten Molkerei gehabt, und das war sehr schön für mich, weil ich auf den Pferden reiten durfte. Die Milch wurde damals mit Pferden ausgetragen. Aber dieses Geschäft hat sich auch nicht rentiert. Und danach hat er das verkauft, was man Baskenmützen nennt, in Wien hat man das „Pullmankappen“ genannt, vielleicht heißen sie immer noch so. Und dann hat er aber einen Mann gehabt, der komische Experimente in einer Hinterstube gemacht hat, der wollte also aus irgendwelchen Essenzen wohlriechende Rasierwasser und so etwas erzeugen. Alles das hat nicht geholfen. Und dann hat er Wäsche erzeugt. Er hat jemanden gefunden, der das finanzierte, das war das Letzte, dann mussten wir fort. Also, er war, um die Antwort zu verkürzen, ein wenig erfolgreicher Kaufmann und Erzeuger. Und in Südamerika, wo wir gelandet waren, hat er das fortgesetzt.

Und Ihre Mutter war nicht berufstätig?

Meine Mutter war nicht berufstätig. Meine Mutter hatte nur einen „Beruf“, sie wollte eine Wiener Dame sein. Und da ihr das nach 1938 nicht mehr möglich war, sie hat sich nie an das Exil gewöhnt, war sie niemals wieder glücklich, nie mehr in ihrem Leben. Aber hier hat sie sich hübsch angezogen und ist mit ihren Cousinen in Kaffeehäuser gegangen und war eigentlich ganz zufrieden.

Lebten alle Ihre Verwandten in Wien?

Nein, meine Verwandten waren hauptsächlich in Pressburg. Pressburg ist das heutige Bratislava. Es war eigentlich ein Vorort von Wien damals. Als ich geboren wurde, war schon eine Staatsgrenze dazwischen, aber in der alten Monarchie war Pressburg eine an Wien orientierte Stadt, so 50 Kilometer von hier entfernt. Wir sind mit der Elektrischen nach Pressburg gefahren. In der Nähe von der Geologengasse, wo ich wohnte, gab es eine Haltestelle. Da konnte man einsteigen und dann konnte man nach Pressburg fahren und dort wohnten meine Verwandten. Dort hatte ich eine große Familie. Hier hatte ich auch eine Großtante, und der Großonkel war ein hoher Offizier in der Österreichisch – Ungarischen Monarchie gewesen. Die Juden konnten in Österreich Offiziere werden, im Gegensatz zu Deutschland, wo man nicht einmal Reserve – Leutnant sein konnte. Aber hier, in Österreich, gab es jüdische Generäle. Und so war er eben ein höherer Offizier, und sie haben zwei Töchter und einen Sohn gehabt. Den Sohn habe ich nach dem Krieg hier noch einmal kurz gesehen. Er war ein entfernter Vetter von mir. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist, aber das waren die einzigen Verwandten.

In welcher Form wurde Ihnen bewusst, dass Sie jüdische Wurzeln haben?

Ja, natürlich, zunächst weiß man es nicht, aber dann wird es einem gesagt, nicht? Eine Definition, wer Jude ist, ist sehr einfach. Ein Jude ist, wer sich für einen hält und wer von den anderen für einen gehalten wird.

Muss beides erfüllt sein?

Es muss beides sein, sonst klappt es nicht, und ich habe das sehr bald erfahren. Weder meine Familie, noch die Umwelt hat das jemals vergessen. Man wurde dauernd darauf aufmerksam gemacht. Meine Mutter selbst hat mir immer eingeschärft, ich muss immer darauf achten, weil die anderen Feinde sind. „Man kann sich eigentlich nur mit Juden wohl fühlen, und die anderen sind immer mit Skepsis zu betrachten.“ – Das hat man mir mitgeteilt und das hat sich mir eingeprägt. Aber später, im Leben, habe ich mich nicht mehr daran gehalten und ich habe eine deutsche Katholikin geheiratet, die ihre Jugend in einem Nazireich verbracht hat. Und jetzt lebe ich mit einer protestantischen Schwedin – es macht mir nichts mehr aus.
Aber Österreich, also Wien, war durch und durch antisemitisch in dieser Zeit. Es war eine gespaltene Stadt. Die Gehässigkeiten waren in allen Richtungen zerstreut, man hasste die Tschechen, und die Ungarn waren auch nicht gerne gesehen. Und die Juden waren besonders ungern gesehen. Und man wurde immer durch Inschriften auf den Wänden daran erinnert, dass man eigentlich hinaus sollte. Und natürlich hat man das nicht so furchtbar ernst genommen. Wenn man am Leben gelassen wurde, … Und wohin sollte man auch? Wenn man kein Geld hat und hier verwurzelt war, dann war man eben hier. Das war so eine Gegebenheit, und man atmete das so ein wie die Luft. Es gibt kein Mittel dagegen.
Und sehr interessant ist auch, dass es einen jüdischen Antisemitismus gab. Ich meine, man muss das nicht ernst nehmen. Die Juden, die antisemitische Äußerungen machen, sind keine Antisemiten in denselbem Sinn, aber sie haben von ihrer Umgebung die Clichés übernommen und äußern sie auch. Meine Mutter hatte das auch gehabt. Und vor allem die Eingesessenen wollten unter keinen Umständen, dass neue dazu kamen. Besonders keine aus dem Osten, im Kaftan und so weiter, die sich so von der Bevölkerung unterschieden, dass sie imstande waren, den sowieso schon latenten Antisemitismus noch anzufeuern. Das ist eine Komplikation

Irène Lindgren: Wie wurdest du von deinen Mitschülern behandelt?

In der Stubenbastei war das überhaupt kein Problem, weil hier sehr viele Juden waren, sodass die Lehrer auch keine antisemitischen Äußerungen in der Klasse machten. Ihre wahre Farbe zeigten sie erst nachher. Dann ging es los, dann haben sie sehr hässliche Sachen von ihren Schülern gesagt. Das war nicht erfreulich, aber das ging unter in der gesamten Unerfreulichkeit.

Warum sind Sie damals in die Stubenbastei gegangen, war das die nächste Schule?

Nein, das war überhaupt nicht die nächste Schule, aber ich glaube, das hatte etwas damit zu tun, dass es im dritten Bezirk nur wenige Juden gab, und meine Eltern glaubten, dass das Gymnasium dort zu antisemitisch wäre. Und hier musste man zwar eine Aufnahmeprüfung machen, aber die habe ich bestanden. Und dann konnte ich hierher gehen. Aber das war ziemlich weit. Also, in den ersten Jahren, als meine Beine noch kleiner war, hat das eine halbe Stunde gedauert, aber später ging es dann.

Haben Sie innerhalb Ihrer Familie religiöse Feste gefeiert?

Das ist eine komplizierte Frage, die ich nur über Erwähnung von Zeiträumen beantworten kann. Meine Großmutter in Pressburg war eine sehr orthodoxe Jüdin, und sie war so orthodox, dass sie einmal gedroht hat, sie käme nicht mehr hierher, wenn meine Eltern den Haushalt nicht ritueller gestalten. Und besonders mit mir war sie sehr unzufrieden, denn ich wuchs ja wie ein Christ auf, hat sie behauptet. Sie war eine gütige Frau, ich habe sie sehr gerne gehabt, aber in religiösen Fragen war sie stur. Übrigens wurde sie später von den Nazis umgebracht. Und sie hat dann dafür gesorgt, dass ich mehr in das Judentum eingewiesen wurde. Man hat mich in ein jüdisches, orthodox geführtes Waisenhaus in Baden geschickt. Ich war todunglücklich, ich habe geweint, ich war 13 Jahre alt, aber dort geschah tatsächlich das, was sie sich versprochen hatte. Es wurde orthodox geführt, und als Kind ist man doch ziemlich offen, was Einflüsse betrifft. In diesem Waisenhaus wurde ich religiös und habe mich an meinen Eltern gerächt, indem ich alle jüdischen Rituale in unserer Wohnung einführte. Und das ging so weit, dass ich meinen Vater zwang, beim Wiener Stadtschulrat ein Gesuch einzureichen, damit ich am Samstag keine schriftlichen Arbeiten machen musste.

Aber Sie sind am Samstag in die Schule gegangen?

Ich bin in die Schule gegangen, aber ich habe nicht mitgeschrieben. Allerdings habe ich das dann schon sehr bald bereut, weil ich am Sonntag alles nachholen musste. Und das hat dann meine Religiosität sehr bald vertrieben. Ich habe nur nicht gewagt zu sagen, dass ich mich geändert hatte, weil ich so einen Aufwand von meinen Eltern gefordert hatte.
Und dann kam Hitler und hat mich von diesem Dilemma befreit. Dann hat sich niemand um mich gekümmert und ich habe alle religiösen Bräuche mit einem Mal abgelegt und sie so vergessen, wie jemand einen Regenschirm im Bahnhof zurücklässt. Seither bin ich ein frommer Atheist.
Aber ich weiß, entwicklungspsychologisch hat man oft eine religiöse Phase als Kind. Meine katholische Frau schlief auf dem Boden, weil sie glaubte, dass Jesus eine Freude daran hat, wenn sie nicht im Bett schläft. Aber das hat sie auch bald aufgegeben. Sie ist in eine Klosterschule gegangen. Und aus der Klosterschule kommt man entweder als frommer Katholik oder als Gegnerin des Katholizismus. Sie ist also glücklicherweise als Gegnerin daraus hervorgegangen, sodass ich sie heiraten konnte, anders wäre das nicht möglich gewesen.

Was haben Sie in Ihrer Freizeit gemacht oder in Ihren Ferien?

Da habe ich hauptsächlich gelesen. Ich habe auch Fußball gespielt. Also zur Jesuitenwiese war es von mir sehr nah – man musste nur über den Donaukanal gehen, über die damalige Sophienbrücke, Rotundenbrücke, und schon habe ich Fußball gespielt. Das ist die einzige Sportart, die für mich noch von einem gewissen Interesse ist. Mein Vater hat mich zu Fußballspielen mitgenommen, im Gegensatz zu heute war Österreich gut im Fußball.

Mit wem haben Sie da gespielt, mit Nachbarn oder Klassenkollegen?

Na ja, da waren immer Knaben auf der Wiese, wir haben uns zusammen getan. Ich hatte keinen Fußball, aber man hat mich dann mitspielen lassen. Ich habe sogar als Halbwüchsiger noch in Bolivien Fußball gespielt. Jetzt, in den USA, ist das bekanntlich eine Sportart, die zwar betrieben wird, aber niemand schaut zu. Es ist der einzige Sport, den ich mir noch anschauen kann, aber ich habe gemerkt, dass es nur wenig Zweck hat, wenn man nicht Anhänger einer Mannschaft ist. Man sieht, dass sie den Ball hin und her schießen, es ist ein gewisses ästhetisches Vergnügen, weil sie Fußballdressen haben, und da ist der grüne Rasen, und der Ball geht hin und her … Aber wenn man kein Anhänger einer Mannschaft ist, also mir ist es egal, welches Land ein Länderspiel gewinnt, hat man wenig Freude daran. Aber ich schaue es mir trotzdem manchmal an.
(Frau Direktor verlässt die Bibliothek)
Also, ich glaube, die Frage nach der Religion habe ich beantwortet.

Können Sie sich noch an Ihre Freunde in der Schule erinnern?

Ja, sehr gut sogar. Ich hatte einige Freunde, Schulfreunde, und viele, viele Jahre später läutete das Telefon bei mir, ich hob ab und ein ehemaliger Schulkamerad aus der Stubenbastei sagte, wir haben ein Klassentreffen in New York.

Da bin ich zum Mittagessen nach New York geflogen, um mir meine alten Freunde anzuschauen. Und ich war der Erste dort, weil ich eben mit dem Flugzeug schneller war. Ich saß dann da, das Restaurant war für den Tag gesperrt, aber sie hatten diese Gruppe angenommen. Ich saß dann da und ich sah diese alten, dicken Männer hereinkommen und überlegte mir: Wer war das, wer ist das, und so weiter. Aber auf diese Weise habe ich sie wieder kennen gelernt. Und mit einigen hatte ich den Kontakt nie verloren.
Ich hatte einen Leibfreund, der hieß Hans Zucker und den kann man also auch in den Annalen hier finden, der einer alteingesessenen, wohlhabenden Familie angehörte. Sein Großvater war, glaube ich, Minister bei Seipel gewesen. Seipel war einer der Bundeskanzler hier, ein Prälat. Also, das war eine wohlhabende Familie, die am Hof wohnte. Aber wir freundeten uns in der Klasse an und diese Freundschaft hat alle Fährnisse des Lebens überstanden. Er ist vor ein paar Jahren gestorben. Er ist Physiker geworden. Für mich war diese Freundschaft sehr wichtig, denn ich kam in ein sehr rückständiges Land, wo es keine Bücher und keine Kultur gab. In Bolivien, wo ich landete, gab es keine einzige gepflasterte Straße, es war durchaus ein Entwicklungsland, das sich nicht einmal entwickelt hat. Es war ein Land der Dritten Welt, die meisten Menschen waren Indianer. Dort hatte ich nichts, aber dieser Freund von mir ist in den USA gelandet und hat mir Bücher geschenkt und hat mir einen Fernkursus an der University of Chicago ermöglicht, also hat für meine Bildung und für mein Lesen gesorgt. Dann bin ich ihm in den USA wieder begegnet.

Ich habe eben auch schon erwähnt, dass einer meiner Klassenkameraden dann eine große Karriere gemacht hat, das war der Henry Anatole Grünwald oder Grunwald, von dem wir es nicht erwartet hätten, aber er hat eben Karriere gemacht, in den USA. Er war ein sehr verwöhnter kleiner Knabe, dessen Vater ein sehr bekannter Librettist war. Sein Vater war Librettist für Operetten, er hat den Text für „Die Csárdásfürstin“ geschrieben. In den USA konnte er nie etwas machen, aber sein Sohn hatte große Schritte gemacht. Er war zuerst Laufbursche bei der „Time“… Sie kennen diese Geschichte, ja, dann mache ich sie kurz. Jedenfalls, er stieg auf, „Time“ war ein großes Reich, ein mächtiges Journalistenreich mit vielen Zeitschriften: „Time Magazin“, „Life“ und so weiter. Die gibt es alle immer noch und er wurde der oberste Leiter im Laufe seiner Karriere und dann hat der damalige Präsident Reagan, der nicht mein Fall ist, aber er hat ihn nachher nach Österreich geschickt, als Botschafter.

Und hat nicht er diese Ehrenmatura initiiert? Zu unserer Schande ist das ja nicht von uns ausgegangen.

Er war befreundet mit Kreisky, als Journalist kannte er sämtliche Staatsoberhäupter. „Wir wollen doch was machen“, … und Kreisky hat das dann eigentlich angeordnet. Kreisky kam auch zu dieser Zeremonie. Wenn ich in New York war, habe ich mich auch immer mit Grunwald getroffen. Er hat ein schönes Buch geschrieben, das heißt „One Man’s America“. Das könnte man auch anschaffen.

Wir hatten gerade das Thema Familie und Kindheit, wir kommen jetzt zum Thema Schule. Sie haben viele Feindseligkeiten in Ihrer Volksschule und in Ihren jungen Jahren zu spüren bekommen, ist das im Gymnasium fortgesetzt worden?

Nein, ich glaube, ich habe das schon so halb und halb erwähnt, dass hier in der Schule kein Antisemitismus zu spüren war, weil die Hälfte der Schüler Juden waren. Nach der Einführung der Rassengesetze stellte sich heraus, dass auch aus der anderen Hälfte sehr viele jüdischer Abstammung waren, also Familien, die längst zum Christentum übergetreten waren. Wien war eine Stadt, wo es sehr viele Juden gab. Wien hat damals 1,8 Mio. Einwohner gehabt und 10% – 180 000 – waren Juden, können Sie sich das vorstellen? Im Gegensatz zu Deutschland, auch darüber wundert man sich, wie wenige Juden es in Deutschland gegeben hat. Die Juden haben niemals 1% der Bevölkerung in Deutschland überschritten. Können Sie sich vorstellen, sie haben so viel Aufsehen erregt, aber mit diesem einen Prozent kam die deutsche Bevölkerung nicht aus.

Waren die Feindseligkeiten in der Volksschule auch antisemitisch oder waren die anders?

Ja, antisemitisch. Aber ich meine, die Kinder wussten nicht viel davon, aber sie haben die Slogans gehört, die Phrasen und haben also „Jud“ und „Jud“ geschrien und dann haben sie das gleich dazu verwendet, einen zu verfolgen und sind einem nachgelaufen. Also, ich musste sehr schnell nach Hause laufen, um diesen Schlägern zu entrinnen. In meiner Volksschule waren eben keine Juden, vielleicht gab es noch ein, zwei andere, aber da waren die anderen in der Übermacht. Man muss das ja auch schichtenspezifisch sehen. Es gibt Schichten, die antisemitischer waren als andere. Die Kleinbürger-Kinder waren am antisemitischsten.

Klaus Huber: Darf ich eure Fragen ganz kurz nur unterbrechen und ein bisschen unverschämt sein, weil ich gehöre der Projektgruppe nicht an. Ich habe auch diese Schilderung von Ihrer Schulzeit noch nicht gelesen. Könnten Sie mir von Ihrem Lebensweg ein paar nur ganz kurze biografische Eckdaten geben? Also, Sie sind 38 von Wien nach Bolivien…

Ich bin 22 geboren, bin 38 aus Wien fort, mein Vater und ich sind über die grüne Grenze, Visen waren nicht zu haben. Wir sind also in die Tschechoslowakei gekommen, wo meine Mutter schon war. Aber das war die falsche Richtung, weil man eigentlich nach Westen sollte. Denn dann kam sehr bald „München“ und die Tschechoslowakei wurde zerschlagen. Die Slowakei wurde selbstständig, also die heutige Slowakei ist nicht die erste selbstständige Slowakei, die gab es damals schon, aber sie war ein faschistischer Satellitenstaat unter einem Prälaten namens Tiso. Eine seiner ersten Amtshandlungen war, die Leute, die sich dorthin geflüchtet hatten, und auch andere, die ihm missliebig waren, abzuschieben. Wir wurden also deportiert. Was nicht viele Leute wissen ist, dass die Münchner Abkommen zwischen den West-Mächten und Hitler nicht nur die Tschechoslowakei zerschlugen, sondern auch gewisse andere territoriale Verschiebungen vornahmen. Die Slowakei musste einige Gebiete an Ungarn abtreten, und wir wurden in diese Gebiete deportiert.
Dann kamen aber die ungarischen Truppen und wir kampierten, da wir keine Wohnungen hatten, auf dem Hauptplatz einer kleinen ungarischen Stadt und wurden sofort wieder verhaftet und zurückgeschoben in ein Lager. In diesem Lager waren hunderte Gestrandete unter freiem Himmel. Es war November, wie jetzt, also genau 71 Jahre her, man hatte kein Essen, kein Wasser, kein Dach über dem Kopf und da waren wir, hunderte Leute. Und dann haben wir Wasser gesucht und haben Wasser in einem Tümpel gefunden, und dann hat die jüdische Gemeinde von Bratislava gehört, dass wir da waren, und hat angefangen Essen dorthin zu bringen. Das ist eine wichtige Station, ich erwähne sie deswegen, weil sie meiner Meinung nach mein Leben gerettet hat. Das war so: Wir konnten aus diesem Lager flüchten mithilfe eines Onkels, der in Bratislava lebte. Er verkleidete sich als Chauffeur, hat Lebensmittel hingebracht und hat uns natürlich sofort ausfindig gemacht. Nachdem die Lebensmittel abgeladen waren, hat er uns auf die Plattform des Lasters, den er fuhr, gelegt, leere Kartoffelsäcke über uns gebreitet, und da er einen Passierschein hatte, konnten wir durchfahren. Bei unseren Verwandten konnten wir nicht bleiben, die Lage war hoffnungslos geworden, und wir mussten uns nach Prag durchschlagen. Das ist uns gelungen. Prag war aber eingezirkelt, war umgeben vom Naziland. Wir fuhren in plombierten Zügen durch das Sudetengebiet, glücklicherweise waren sie plombiert, denn wir sahen die Naziuniformen aus den Fenstern.
Dann waren wir in Prag, und da waren wir mittellos – das letzte Geld hatten uns die Ungarn abgenommen. Aber es gab Hilfsvereine für jede Art von Flüchtling, also für Sozialdemokraten und Kommunisten, getaufte Juden und nicht getaufte, und wir waren umringt von Journalisten, die haben uns ausgefragt. Deswegen haben die Beamten, die eigentlich nicht mehr helfen konnten, unsere Pässe mit dem Vermerk der Dringlichkeit nach Paris geschickt. Und eines Tages kamen sie mit bolivianischen Visen zurück, die dort gekauft wurden. Wir haben einen bestechlichen Konsul gefunden und haben Visen gekauft und so kamen wir dann nach Frankreich.
Von Frankreich fuhren wir dann mit einem mir unvergesslichen Schiff einen Monat lang, es hat einen Monat gedauert, von Südfrankreich nach Chile. Dieses Schiff war voll von Flüchtlingen jeder Art und von Spaniern, weil da auch der Spanische Bürgerkrieg gerade zu Ende war. Das war eine so unerhört anregende Sache, und auf dem Schiff habe ich Spanisch gelernt und bin dann 1939 in Chile gelandet und mit dem Zug nach Bolivien gefahren.
In Bolivien war ich dann sechs Jahre lang und habe versucht mich durchzuschlagen. Es war ein schlechtes Alter, ich war 16 Jahre alt, ich hatte keine Ausbildung, aber ich war auch nicht mehr so anpassungsfähig, und so war ich also ein Fremdkörper, der man sowieso in Bolivien ist, in einem Indianerland, hoch oben in den Anden. Da habe ich Jahre lang gearbeitet und war Maurer und Elektriker und Textilarbeiter und zum Schluss, als alle Stricke rissen, wurde ich Minenarbeiter, habe also in den Zinnminen von Potosí gearbeitet, drei Jahre lang, und bin dann aber nach Chile gegangen.
Das war eine weitere Station, dort konnte ich aber nicht bleiben. In Chile war ich Kürschner, aber ein schlechter Kürschner und bin dann nicht in Chile geblieben, sondern bin nach Ecuador weiter gezogen.
An meinem 23. Geburtstag kam ich in Guayaquil an, der Ecuadorianischen Hafenstadt. Ich hatte inzwischen Englisch gelernt und war schon 23 Jahre alt, habe also einen besseren Job gekriegt.
Ich war Dolmetscher für die neu eingerichtete amerikanische Militärmission. Die Amerikaner konnten kein Spanisch. Ich konnte aber Englisch und Spanisch. Das war eben mein Job. Es geht natürlich noch weiter, aber ich will jetzt weiteren Fragen den Raum geben.

1938 sind Sie nach Bolivien gefahren von Südfrankreich, das haben Sie gerade gesagt.

1939 – wir sind bis 1939 in Europa gewesen.

Und was waren das für Eindrücke, als Sie dort in Bolivien oder in Chile angekommen sind?

Chile und Bolivien waren sehr verschiedene Eindrücke. Erstens war ich älter. Ich war schon ein umtriebiger junger Mann, als ich nach Chile gekommen bin.

Ich glaube, sie meint jetzt Arica. Sie sind ja in Arica angekommen, weil ja Bolivien keinen Hafen hatte.

Ah so, das ist was anderes. Bolivien hatte die lebenswichtige Küste in törichten Kriegen verloren. Arica war früher einmal Bolivien gewesen, eigentlich war es peruanisch gewesen. Das war ein komplizierter Krieg. Jedenfalls hatten sie keinen Zugang zur See gehabt, und man musste mit dem Zug nach La Paz fahren. Meine ersten Eindrücke waren total exotisch, also, auf dem Markt wurden von riesigen Fischen Stücke mit Sägen abgeschnitten. Zweitens stank die Stadt entsetzlich, weil Inseln vorgelagert waren und die Vögel dort ihren Unrat zurückließen. Das war ein wertvolles Produkt, ein Dünger, der abgebaut wurde. Aber wenn der Wind vom Ozean kam, konnte man kaum atmen. Das war auch ungewöhnlich. In Wien hat es auch gelegentlich gestunken, aber nicht so. In den Friseurläden haben Japaner die Haare geschnitten, so etwas hatte ich auch noch nie gesehen. Es war also alles anders.
Wir wollten natürlich gleich nach Bolivien weiter fahren, aber man hat uns gesagt, dass wir den Zug versäumt haben. Und der fuhr nur einmal in der Woche. Da hatte ich schon eine Ahnung, dass wir in ein sehr isoliertes Land kommen, wenn der Zug nur einmal in der Woche fährt. Der fuhr auf 5000 Meter Höhe und die Leute fielen in Ohnmacht, weil die Luft so dünn war. Dann ist so ein kleiner hurtiger Mann durch die Waggons gerast und hat den Leuten Sauerstoff gegeben. Er hatte ein Sauerstoffgerät und war schon darauf vorbereitet. Mir hatte das nichts ausgemacht, weil ich jung war und eine gute Lunge hatte. In La Paz, das nicht die Hauptstadt von Bolivien ist, was viele Leute glauben, sondern nur die größte Stadt, die bis 4000 Meter hoch ist, war die Luft auch sehr dünn. Der Körper aber bildet dann neue rote Blutkörperchen, die mehr Sauerstoff speichern. Trotzdem sind viele Leute gestorben, vor allem für Herzkranke war das sehr verheerend.

Sind Sie zufällig in La Paz der Familie Allerhand begegnet?

Ja. La Paz wimmelte damals von Immigranten, die sich dann nach und nach verzogen. Viele Leute wanderten in die begehrenswerteren Länder ein. Besonders aber junge Leute oder Alleinstehende konnten über die Grenze gehen, mit Familien war es schon schwieriger. Es gab einen Erwerbszweig, Leute schleusten Menschen über die Grenze nach Argentinien. Bolivien ist ja umgeben von Brasilien, Chile, Argentinien, Paraguay. Paraguay ist aber ebenso schlecht wie Bolivien, aber die anderen drei, die ABC-Länder, also Argentinien, Brasilien und Chile waren sehr begehrt. Dort wollten Leute hin, wenn sie etwas Geld hatten, aber wir hatten keines und sind also da geblieben.
Und dann waren wir dort und Bolivien war noch exotischer. Denn in Chile gibt es ja kaum noch Indianer, die Araukanischen Indianer sind im Süden. Aber auf dem Markt gab es tausenderlei Sachen, die keine europäische Hausfrau kannte. Man wusste nicht, was man kochen sollte. Das Wasser kochte schon bei 70°C, das Fleisch wurde nie weich, und es gab keine Wohnungen. Die Indianer verbrannten Lama-Mist, dann verbreitete sich dieser Geruch und man spielte Indianer-Musik. Es ist sehr enervierend, wenn man sie zuerst hört, aber dann später …, ich kann sie nicht mehr aus meinem System rauskriegen. Und dann vor allem gab es keine Erwerbsmöglichkeiten. Es gab sehr wenig Europäisches. Mein Vater hat dann eine Stellung in einer Textilfabrik bekommen und die Textilfabrik zog sofort weg aus La Paz und ich blieb alleine zurück. Also, an meinem 17. Geburtstag war dann diese „Nabelschnur“, die einen an die Eltern bindet, weg. Ich hatte einen Job und das war der Grund, warum ich dort zurückbleiben musste. Wir konnten es uns nicht leisten, einen Job aufzugeben.

Wie lang hat es gedauert, bis Sie Spanisch sprechen konnten?

Das konnte ich schon, wie ich ausgestiegen bin. Auf dem Schiff habe ich die Sprache gelernt.
Ich hab’s immer mit Sprachen gehabt, ich wollte immer Sprachen lernen. Ich wusste das damals nicht, aber ich hatte in meiner Jugend ein gewisses Sprachtalent. Und das, was die Stubenbastei zu bieten hatte an Sprachen, das genügte mir nicht. Also habe ich meine Eltern getriezt und dazu gebracht, dass sie mich in der Kundmanngasse in einen Italienisch-Kurs eingeschrieben haben. Ich war eine richtige Nervensäge, weil ich immer alle Vokabel erraten konnte, wir hatten ja hier Französisch. Aber ich habe immerhin Italienisch gelernt.
Nach dem Anschluss hat mein Vater mir gesagt, dass ich nützlichere Sprachen lernen sollte. Ein Englisch-Lehrer der Universität schuldete ihm etwas, aber der wollte mir keinen Unterricht geben, weil Juden gebe er keinen Unterricht. Dann hat mein Vater einen jungen Mann gefunden, bei dem diese Gefahr nicht bestand, denn er war selber Jude. Er konnte Spanisch und hatte mir die Grundlagen beigebracht, aber leider nicht genug, weil wir dann weggezogen sind. Aber ich hatte den Grundriss der Grammatik schon im Kopf, und auf dem Schiff hat mich ein spanischer Ingenieur, der auf der republikanischen Seite gegen Franco gekämpft hatte, unter seine Fittiche genommen und mir stundenlang auf dem Schiff – es hatte ja einen Monat gedauert, bis wir dann dort ankamen, – Spanischunterricht gegeben. Und wie ich das Schiff verließ, konnte ich ziemlich fließend Spanisch und habe den anderen Immigranten schon bei den Zollformalitäten helfen können. In den nächsten elf Jahren habe ich natürlich noch etwas dazugelernt. Spanisch war eine Zeitlang meine beste Sprache. Ich habe zwar immer Deutsch gesprochen, aber dann habe ich zu studieren angefangen und erreichte ein Niveau, das die Emigranten in ihren Alltagsgesprächen nicht erreichten.

Und wie waren die Verhältnisse auf diesem Schiff?

Elend. Wir fuhren natürlich Zwischendeck, und das Essen war ungenießbar. Die Besatzung war ausgesprochen gegen uns. Es war ein englisches Schiff, das umgebaut war, um die Konjunktur zu befriedigen. In den Häfen hat man uns nicht hinaus gelassen. Das Schiff musste sich natürlich irgendwo neue Lebensmittel und Brennstoff besorgen. Wir waren in Havanna, wir durften aber nicht an Land. Die Sonne brütete herunter. Viele, viele Jahre später, als Castro das Regime dort übernahm, sagte ich: „Jetzt beginnt die Zeit der dritten Klasse, endlich.“

Gab es dann auch ein Gefühl der Verbitterung, als Sie in Chile waren? Zum Beispiel wegen des Verlusts der Familie.

Für meinen Vater war es schlimm, aber für mich nicht. Ich war jung. Ich war verbittert, weil ich nicht mehr das machen konnte, was ich wollte. Und ich habe mir eingebildet, dass ich für etwas anderes als für die Mine bestimmt war. Das wurde aber gemildert durch Abenteuerlust.

Und auch schon diese Schiffsüberfahrt – Sie waren 16, schon einige Zeit auf der Flucht mit vielen Erlebnissen…

… war sehr interessant.

Das wollte ich fragen, ist das für Sie eine schlechte Erinnerung oder eine interessante?

Alle Erinnerungen, jetzt, wo ich’s überstanden habe, sind sie alle gut. Aber auf dem Schiff passierte etwas, das hochinteressant war, nämlich in der Bordzeitung stand unter anderen trivialen Nachrichten: „Prag von den Nazis besetzt!“ Wenn ich also eine Woche länger dort hätte bleiben müssen, wäre ich heute nicht hier, um Ihnen diese Geschichte zu erzählen. Es hängt alles an einem Faden. Zufälle regieren das Leben.

Wann und warum haben Sie dann Bolivien verlassen?

Ich habe Bolivien bis hier gehabt und von Chile hat man gehört, dass es besser war. Es war natürlich nur besser für die besser Weggekommenen. Ich bin nach Chile gekommen und musste natürlich sofort irgendwie mein Leben verdienen. Ich wurde Kürschner. In Nord- und Südamerika fragt man nicht, was man gelernt hat, sondern was man kann. Und das habe ich dann also versucht. Aber ich war, wie gesagt, sehr schlecht. Außerdem habe ich Schülern Sprachunterricht erteilt, sogar ein bisschen Mathematik. Ich habe ein paar Groschen hie und da verdient. Chile war eine Offenbarung für mich, ein Land mit Zugang zur See, und die See ist die Welt. Es war fast Europa.

Und wie lange sind Sie in Chile und Ecuador geblieben?

In Chile hatte ich ein Besuchervisum. Das konnte ich noch ein paar Mal verlängern und dann ging’s nicht mehr. Dann musste ich fort. Ich war vielleicht ein dreiviertel Jahr in Chile, oder ein Jahr, vielleicht weniger als ein Jahr. Und dann kam ich nach Ecuador, und dort war ich vier Jahre. Ich bin dann sofort in die Hauptstadt gefahren.
Und dort hatte ich ein paar Dollars in der Tasche gehabt. Und dann bin ich auf einen Indianermarkt gegangen, habe mir ein Bettgestell gekauft und einen Strohsack und das habe ich auf meinem Rücken in die Stadt getragen. Und da habe ich mir so ein Loch in der Wand gemietet, habe das Bett hinein geschoben und dann war es möbliert – mehr hatte ich nicht. Für mehr war auch kein Platz, für etwas anderes. Mit Hechtsprung konnte ich in mein Bett, dann habe ich mir noch drei Nägel in die Wand geschlagen und habe meine Kleider aufgehängt. Dann habe ich die Zeitung gekauft und Job gesucht und habe diesen Militärjob gefunden, ganz gegen meine eigentliche Natur, aber immerhin war es ein Job…

Wie war es davor in La Paz? Wie haben Sie da gewohnt?

In La Paz habe ich bei einem österreichischen Abenteurer eine Anstellung gefunden, als „Mädchen für alles“. Zum Beispiel hatte er eine Ziegelfabrik gehabt, die von Indianern betrieben wurde, und eine meiner Aufgabe war es, dass ich die Indianer am Kopulieren hindern musste. Das war eines, aber dann hat er auch geschrieben und ich habe Diktat aufgenommen. Ich durfte bei ihm wohnen und habe mit ihm den Tisch geteilt und mit ihm gegessen. Wenn das Essen nicht gut war, hat er die Indianerin, die das gekocht hat, gewürgt. Er hatte Meerschweinchen herumlaufen und die hat er immer gezählt. Und wenn eines fehlte, dann hat er sie beschuldigt, das gefressen zu haben. Er war ein sehr interessanter Mensch, dieser Herr, und so bin ich von einem Job zum anderen gekommen, in Bolivien. Ich hab es bei keinem ausgehalten, zum Teil war ich schlecht und zum Teil waren es andere Gründe, dass ich aufgehört habe.

Und war Ecuador höher stehend als Bolivien?

Ja, Ecuador war ein angenehmeres Land als Bolivien – kleiner, die Verkehrsverhältnisse waren besser. Es hatte einen Hafen und da kamen Schiffe und Fremde und so weiter. Da waren nicht nur Indianer, sondern auch andere Leute, und es war eben überschaubarer – eine mildere Fassung eines Andenlandes als Bolivien. Bolivien ist bis heute schwierig.

Und hat man in Südamerika auch Spuren von Antisemitismus bemerkt?

Große Spuren, es war die Zeit zwischen den Kriegen. Und die erste Kriegzeit war eine faschistische Zeit, und die Nazis wollten natürlich auch Südamerika erobern. Man hat schon den Urwald gerodet, damit die Naziflugzeuge dort landen konnten. Und in der Mine, wo ich gearbeitet habe, gab es eine kleine Gruppe von Deutschen, die hatten SA- Uniformen und exerzierten am Sonntag. Und von den Radios plärrte der Antisemitismus. Das habe ich sehr stark gespürt, aber die Bolivianer wissen ja nicht, was das ist. Also, je blonder ein Kind war, desto mehr hat man es als Juden beschimpft. Alles, was fremd war, war jüdisch. Aber der Antisemitismus war in Bolivien harmlos, ein reines Vergnügen, verglichen mit dem hiesigen.
Alle christlichen Länder sind judenfeindlich. Die christliche Religion musste sich gegen die jüdische … – das ist so, wie man sich vom Vater emanzipieren muss. Also, die jüdische Religion ist die Grundlage der christlichen … Deswegen wurden die Juden verteufelt, denn Jesus Christus war ein Jude, dem es nie eingefallen war, eines der vielen Gesetze, die die Juden haben, nicht zu befolgen. Er war ein frommer Jude. Erst seine Jünger, die Nachfolger, haben eine neue Religion gegründet. Jesus Christus wäre so etwas niemals eingefallen. Man weiß ja auch wenig von ihm. Ich habe einen Freund gehabt, einen deutschen Theologen, der sagt: „Alles, was man über Jesus Christus weiß, geht auf eine Postkarte.”

Und auf welche Weise gelangten Sie in die USA?

Ja, das ist eine, fürchte ich, lange Geschichte. Ich versuche sie aber kurz zu erzählen, so kurz wie möglich. Was ich mitgebracht habe aus Österreich und was dann mein Leben bestimmt hat, war der Kulturbazillus. Ich war so infiziert von der Idee, dass man lesen muss und schreiben kann und so weiter. Das hat natürlich beigetragen, dass ich mich dann noch weniger wohl gefühlt habe in einem Land, wo das alles nicht möglich war. Aber ich habe es nie aufgegeben. Und ich habe also gelesen. Und wenn ein neuer Immigrant in die Stadt kam, in der ich war, bin ich zu ihm gegangen, habe ihn begrüßt und nach ein paar Minuten, nachdem die Begrüßungsfeierlichkeiten vorbei waren, habe ich gefragt: ”Haben Sie Bücher mitgebracht?” Mit 23 Jahren war ich ein sehr belesener junger Mann.
Ich hatte eine deutsch- jüdische Geliebte, die kam eines Tages zu mir und sagte: „Du, ich habe hier ein Buch, das meine Tante geschrieben hat, vielleicht interessiert du dich dafür, du liest doch gerne Bücher. Und diese Tante war die Käte Hamburger. Ich weiß nicht, ob ihr wisst, wer sie ist? Sie ist vielleicht die bedeutendste Philosophin, die es in Deutschland nach dem Krieg gegeben hat. Das war also zufällig ihre Tante und das Buch war über die Josephs-Romane von Thomas Mann. Ich hatte gerade den „Zauberberg“ zu Ende gelesen mit tiefster Anteilnahme. Ich las dieses Buch und es war das erste Sekundärbuch, die erste Sekundärliteratur, die ich gelesen hatte, Vielleicht, ich bin mir nicht klar, ob das meine Gedanken waren, aber ich muss gespürt haben: Das kannst du vielleicht auch! Das war also ein Anstoß, vielleicht sollte ich studieren, ich weiß jetzt so viel, aber das ist alles ein Chaos, ich muss ein bisschen Ordnung drin haben… Es wäre gut zu studieren, aber ich hatte ja keine Matura, Ihre Schule hat mir ja keine gegeben.
Also, ich muss Matura machen. Da habe ich ein Gesuch verfasst, an das Ecuadorianische Unterrichtsministerium geschickt und bekam einen höflichen Antwortbrief abschlägig zurück. „Wir können das nicht machen, wir können Ihre Zeugnisse nicht lesen. Es tut uns Leid, aber es ist hier in Ecuador keine Vertretung von Deutschland und Österreich. Schade.“ Also muss ich etwas anderes machen. Ich muss eine Matura haben. Ich muss meine Zeugnisse legitimieren lassen. Ich bin also zum amerikanischen Konsul gegangen und habe gesagt: “Können Sie mir ein Visum nach Amerika geben?” Denn ich hatte gehört, dass in New York ein österreichisches Konsulat eröffnet wurde. Es war ja jetzt schon 1946, 47. Und da hat der amerikanische Konsul gesagt:” Lieber Freund, ich kann Ihnen ein kurzfristiges Visum geben, aber nicht auf Ihren Pass. Ich hatte einen deutschen Pass, der schon Jahre abgelaufen war und ein großes „J“ drinnen hatte, natürlich. Ja, was macht man da? Zuerst bin ich zu den ecuadorianischen Behörden gegangen und habe um ein Reisepapier angesucht. Nach langen Mühen, Ecuador ist mindestens so bürokratisch wie Österreich, habe ich ein Reisepapier bekommen. Das war ein salve – conducto, das mich ermächtigte, einmal nach New York zu fahren und zurückzukommen. So war das, aber ich musste die Reisekosten bezahlen und hatte keinen Pfennig. Ich habe einen Job gesucht und gefunden. Ich war Buchhalter auf einer ecuadorianischen Bananenplantage. Und da habe ich so viel verdient, dass ich mir etwas zurücklegen konnte, und nach einem Jahr hatte ich genug, um die Reise nach New York zu bezahlen.
Ich bin also nach New York gefahren und stand da ohne Pfennig. Aber dann hat mir irgendein Hilfsverein jede Woche einen Zuschuss gegeben, von dem ich lebte. Und dann bin ich zum österreichischen Konsul gegangen, der sehr freundlich war. Er hat mir sofort einen österreichischen Pass gegeben – mit einem Blick auf meine Kleidung gebührenfrei. Er wusste, dass ich das nicht bezahlen konnte. Dann gab der ecuadorianische Konsul seine Unterschrift, kurz und gut, ich kam ausgerüstet aus diesen Ämtern heraus und mein Visum nach Amerika war abgelaufen, ich musste zurückgehen. Aber ich hatte kein Geld mehr, um nach Ecuador zu kommen. Das könnt ihr euch merken: Man kommt auch so weiter in der Welt, wenn man zu allem bereit und fähig ist. Meine Rückkehr nach Ecuador hat sechs Wochen gedauert, von New York nach Cuenca. Ich kam an und diesmal hat das Unterrichtsministerium zugestimmt, die Papiere waren in Ordnung, sie konnten sie lesen.
Ich habe eine Prüfung abgelegt, ich musste mich natürlich darauf vorbereiten und musste also die Geschichte der spanischen Sprache können, musste die Geschichte Ecuadors können und die Geographie Ecuadors. Wenn wir jetzt Zeit hätten, würde ich alle Vulkane aufzählen. In Ecuador sind sehr viele und sie haben sehr schöne Namen: Einer heißt “Tungurahua”, ein anderer heißt “Cotopaxi”, und der wichtigste ist der “Chimborazo”, nicht wahr, den kennt jeder. Kurz, ich durfte studieren und die Universität, wo ich war, bot nichts an, was ich wissen wollte: Man konnte dort Arzt werden, Ingenieur oder Jurist. Und das war alles nichts für mich. Für mich war die Literatur. Ich war ein junger Dichter. Na ja, ich habe mich in der Juristerei einschreiben lassen, weil da noch Sozialwissenschaften dabei waren. Aber ich wollte kein ecuadorianischer Rechtsanwalt werden. Ich habe es studiert als Sprungbrett.
Ich habe ein Buch gefunden, in dem Adressen waren, und habe also meine Notsignale in die ganze Welt geschickt – um Aufnahme und Finanzunterstützung. Natürlich bekam ich nur negative Antworten, aber es war doch nicht vergeblich, denn mein Notsignal erreichte den Schreibtisch eines Professors, der in Deutschland ein nichtjüdischer Dramatiker war. Der einzige Mensch, der verstand, was sich hinter dem Gesuch versteckte.

Der war also Professor für Germanistik, umgeben von Doktoranden, die alle auf einen Job warteten und seine Hilfe brauchten. Als ein kleines College zu ihm kam und ihn nach einem Deutschlehrer fragte, hat er nicht einen seiner eigenen Schüler empfohlen, sondern er sagte: „Ja, ich habe einen jungen Mann in Ecuador.“ Eines Tages bekam ich ein Angebot von einem sehr religiösen fundamentalistischen College, das mir eine Stellung als Deutschlehrer anbot.

Warum haben Sie sich für die Studienfächer Jus, Romanistik und vor allem Germanistik entschieden?

Ich wollte ja Literatur studieren, nicht, und das waren eben die Sprachen.

Eben auch nach dem, was Sie alles durchgemacht haben, also, wenn ich das jetzt so sagen darf, – Sie dürfen alles sagen- nach dem, was Sie alles durchgemacht haben in Österreich und wie viel Sie gereist sind, dass Sie da trotzdem noch Germanistik studieren wollten…

Ich belegte romanistische Seminare. Ich konnte Spanisch besser als Deutsch damals und habe also spanische Seminare belegt. Ich konnte sehr gut Französisch und habe französische Seminare belegt und germanistische auch. Aber geholfen haben mir die Germanisten dort, und ich bin also den Weg des geringsten Widerstandes gegangen, außerdem hat mir die deutsche Sprache keinen Schaden zugefügt. Deswegen habe ich auch auf Deutsch geschrieben. Ich weiß, Ihre Frage ist total berechtigt, denn es gibt sehr viele Leute, die sich geweigert haben, jemals wieder ein deutsches Wort zu reden.

Irène Lindgren: Du hast doch solche Freunde in St. Louis. Die können Deutsch, aber die wollen das nicht.

Aber das war nicht mein Fall. Ich habe auch keine nationalen Vorurteile – das haben zwar Deutsche gemacht, aber es war eine Weltkatastrophe – es lag an Vorurteilen, es lag am Mangel an Humanität, was immer … Es gibt viele Gründe, warum das ausbrach. Frankreich war genauso antisemitisch, sagen wir zur Jahrhundertwende, als der Dreyfus, ich weiß nicht, ob Sie das wissen, da war ein großer Fall, wo ein jüdischer Offizier, der man immerhin werden konnte in Frankreich, angeklagt war des Landesverrats, wurde auch verurteilt, und diese Geschichte hat Frankreich gespalten in zwei Lager. Wenn man also zu dieser Zeit gefragt hätte, wo die größte Judenverfolgung stattfinden würde, hätte jeder Historiker sofort gesagt: Frankreich.

Wie kamen Sie eigentlich mit der neuerlichen Umstellung zurecht? Konnten Sie gut Englisch?

Ich konnte es recht gut, ja, gut genug, wirklich. In der Mine gab es amerikanische Ingenieure, und einer davon hat mich angefordert als seinen Gehilfen. Und wir haben immer nur Spanisch gesprochen, aber nach einer Zeit hat er gesagt: „Das ist doch ein Blödsinn, ich bringe dir Englisch bei. Und da hat er mir einen Artikel aus „Life Magazine“ vorgelesen, damit ich weiß, wie das ungefähr geht. Den habe ich nachhause mitgenommen und auswendig gelernt, am nächsten Tag habe ich ihn vorgesprochen, er hat mich noch korrigiert, und nach ein paar Wochen sind wir zu Englisch übergegangen in unserem täglichen Verkehr. Dem bin ich sehr dankbar, er hieß Norman Andersen, stammte aus Süddakota und war mein Wohltäter, hat mir Englisch beigebracht. Es war ja nicht seine Pflicht. Er war ein Vorgesetzter, der ein Mensch war.

Irène Lindgren: Gegen Österreich hast du nie etwas gehabt. Ich meine, als Studentin bei dir kann ich ja bestätigen, wie viel österreichische Literatur und Seminare über die Jahrhundertwende oder vorher auch noch …

Na, hier ist nicht alles herrlich, aber…

I. L.: Du hast ja auch verschiedene Auszeichnungen bekommen.

Das offizielle Österreich hat mich fabelhaft behandelt nach 45, ich war ja 17 Jahre überhaupt nicht in Europa. Meine Frau wollte einmal ihre Mutter besuchen – das erste Land, das ich wieder betrat in Europa, war Deutschland! Da habe ich auch viel gelernt. Ich habe eine große deutsche Familie und habe gemerkt, dass das normale Leute sind. Es muss ja nicht ein jeder ein Nazi sein.
Und dann bin ich auch nach Wien gekommen, da habe ich aber doch meine Bedenken gehabt. Aber da gab es den Reinhard Urbach, ich weiß nicht, ob Sie den kennen, ein Wahlösterreicher aus Weimar, der hat sich in den Kopf gesetzt, mich mit meiner Heimat zu versöhnen. Er war damals in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur und hat mir geschrieben: „Halte doch einen Vortrag hier.“ Also bin ich gekommen, habe einen Vortrag gehalten und habe viele Leute kennen gelernt und mich eigentlich unter diesen Menschen ganz wohl gefühlt, so wie ich mich auch hier, kann ich euch sagen, wohl fühle, bei euch. Dann, mit der Zeit, hat mir Österreich eine Ehrenmatura gegeben, was ich ja nun lächerlich finde, aber ganz lustig, die Wiener Universität hat mir einen Ehrendoktor gegeben – da habe ich auch Witze gemacht, die vielleicht nicht ganz passend waren. Ich habe einen Talar angehabt und musste eine Rede halten und sagte: Ich bin sehr stolz, diese Ehrung hier anzunehmen, besonders weil eine Schriftstellerin, Marie Ebner-Eschenbach, die erste Frau war, die hier einen Ehrendoktor bekommen hat, und ihr Nachfolger zu sein ist mir ganz recht. Übrigens mussten Sie auch schon damals ein Vorurteil überwinden und einer Frau … und jetzt sogar einem Juden … Da ist der damalige Rektor aufgesprungen und hat gesagt: „Wir geben keine Ehrendoktorate aus Wiedergutmachungsgründen.“ Das war Alfred Ebenbauer.
Dann bekam ich plötzlich ein Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft, da kam der österreichische Konsul von Chikago und hat es mir an die Brust geheftet. Später bekam ich ein Großes Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich, das ja sogar der Präsident unterschreiben musste. Das habe ich mir in der österreichischen Botschaft in Washington abgeholt, das war sehr gut, weil ich zwei Töchter in Washington habe. Und das war aber auch ganz lustig – die Frau Nowotny, ich weiß nicht, ob Sie sie kennen, die Botschafterin, ist zweimal so groß wie ich und musste praktisch in die Knie gehen, um mir das anzuheften. Außerdem hatte ich meine Jacke in St. Louis vergessen und habe mir eine Jacke von meinem Schwiegersohn ausgeborgt, aber der ist kleiner als ich und sie ging mir nur bis hierher, und außerdem wollte ich nicht, dass sie sie kaputt macht und habe versucht sie zu hindern, mir das da anzustecken. Aber den Kampf habe ich verloren, und sie hat es mir angeheftet. Aber mein Schwiegersohn hat es nicht bemerkt.

I. L.: Das war auch die Zeit, als du das Freundschaftsbuch bekommen hast, das jetzt auch die Schüler bekommen. Da wurdest du 85, das ist also zwei Jahre her.

Ja, ich bin jetzt 87 und noch halbwegs in Schuss.
Kennt ihr die Ursula Seeber, das ist eine nette Frau im Literaturhaus, die die Exilliteratur betreut. Sie hat euch die Bücher geschickt.
Könnt ihr Englisch? Da sind auch englische Beiträge – meine Töchter haben auf Englisch geschrieben.

Es gibt noch einige Fragen. Sind Sie vor 38 mit Antisemitismus konfrontiert worden?

Ja, das habe ich schon erwähnt. Man konnte dem nicht entgehen. Es gab sehr viel Antisemitismus, auch in der Presse und das Schuschnigg – Regime war auch antisemitisch. Schuschnigg selbst hat es mir gegenüber abgeleugnet, aber ich wusste es besser als er. Man wurde auf Schritt und Tritt mit Antisemitismus konfrontiert.

Wie haben Sie die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November erlebt?

Da war ich aber nicht mehr hier, da war ich selbst schon im Lager, das habe ich schon beschrieben, in diesem Niemandslandlager. Ich habe das kaum mitgekriegt, da gab es keine Nachrichten. Wie ich es gehört habe, hat es mich eigentlich nur wenig gewundert, muss ich sagen. Von diesem Regime erwartete ich nur Böses. Ich wusste natürlich nicht, wie es weiter gehen würde, und dass das der Beginn von der Judenvernichtung war. Das hat sich ja niemand vorgestellt. Die Nazis wollten ja die Juden eigentlich nach Madagaskar schicken, eine Insel bei Afrika. Aber das ging nicht, weil zwar Frankreich schon besiegt war, aber die französische Flotte noch nicht, und die Deutschen hatten keinen Zugang zu Madagaskar. Das war eigentlich das Unglück der Juden, Madagaskar war zwar nicht herrlich, aber besser als Auschwitz.
Die so genannte Kristallnacht hat keinen nachhaltigen Einfluss auf mich gehabt.

Wann und wie wurde von Ihrer Familie der Entschluss zur Flucht gefasst?

Das ist eine sehr interessante Frage, man müsste wirklich Zeit haben, sie zu beantworten. Prinzipiell gilt, dass Deutschland und Österreich ganz verschieden waren, denn in Deutschland hatten die Regimegegner und die Juden fünf Jahre Zeit, sich auf die neue Welt vorzubereiten. Und wenn die Juden in Deutschland klüger gewesen wären oder mehr Geld gehabt hätten, hätten sie Deutschland schnell verlassen können, ohne große Einbuße. Aber, natürlich, wer verlässt seine Heimat? Man verliert ja nicht nur das Land, sondern man verliert seine Zukunft, seine Freunde und seine Sprache und alles. Die Welt aufsuchen zu müssen ist eine komplizierte Sache.
Aber in Österreich sind alle diese Judengesetze, alle diese furchtbaren Sachen sind über Nacht hier eingeführt worden – die Deutschen hatten fünf Jahre Zeit, von 1933 bis 38. Und ich glaube nicht, dass es einen vernünftigen Juden in Wien gegeben hat, der geglaubt hat, dass er lebend hier bleiben könnte. Jeder wollte fort, aber gleichzeitig mit der Besetzung Österreichs schotteten sich alle Länder ab, es gab keine Visa mehr. Auf den Straßen bei den Konsulaten bildeten sich Schlangen von Menschen in der Hoffnung, ein Visum zu ergattern oder sich wenigstens einzuschreiben. Der Entschluss wegzugehen war allgemein, ich kannte keinen Menschen, der nicht weg wollte. Die jungen Leute, etwas älter als ihr, aber auch in eurem Alter, sind über die Berge gegangen und über die Flüsse geschwommen, um diesem Hexenkessel zu entgehen.
Denn hier brach ein Pogrom aus, wisst ihr, was das ist? Ein Pogrom ist eine Judenverfolgung, das ist ein slawisches Wort, weil die Juden ja auch im Zarenreich ermordet wurden. Und deswegen sind so viele in den USA, weil ja die Zaren die Menschen verfolgt haben. Also hier brach auch ein Pogrom aus, die Leute wurden aus den Fenstern geschmissen. Meine Mutter war zufällig in Pressburg bei ihren Eltern zu Besuch, und die Nachbarin ist sofort gekommen und meine Mutter musste ihr die Wohnung sauber machen. Sie wurden geholt, ja, sie mussten die Kasernen sauber machen und die Klosetts räumen. Auf dem Platz vor der Albertina ist ein Denkmal, von Hrdlicka, da ist ein kniender Jude, der die Straßen säubern musste.
Die Schuschnigg – Regierung hatte ja ein Plebiszit, also eine Volksbefragung angeordnet, und es sollte entschieden werden, ob die Österreicher überhaupt einen selbstständigen Staat haben wollten oder nicht. Aber das hat Hitler nicht abgewartet, das Plebiszit war für den 13. März angesagt, und am 11. März ist Adolf Hitler hier einmarschiert. Das wäre ja für ihn ein großer Triumph gewesen, wenn die Österreicher ohne Druck für Deutschland gestimmt hätten. Aber das wusste er nicht oder er wollte es nicht abwarten.
Ja, und von dem Augenblick an war hier ein Hexenkessel. Die Schüler, meine Kameraden wollten nichts mehr mit mir zu tun haben, sie gingen mir aus dem Weg. Meine Mutter war in Pressburg, mein Vater hat sie nicht zurückkommen lassen. Ich war alleine mit ihm, man hat uns sofort die Wohnung weggenommen. So hatten wir kein Dach mehr über dem Kopf. Mein Vater hat mich bei Bekannten untergebracht und hat sich irgendwo ein Feldbett aufgeschlagen, und ich hatte immer Angst, dass er zu den Verhafteten gehören würde. Was hätte ich machen sollen? Mit 15, so weltunerfahren, ohne einen Pfennig Geld. Ich wäre bestimmt umgekommen, wenn sie meinen Vater, wie andere, eingesperrt hätten. Also, es war eine Mausefalle und da heraus zu kommen …, deswegen musste wir illegal über die Grenzen.
Meine Freunde, die ich in Amerika habe, die sind … Ein sehr bekannter Germanist namens Walter Sokel, der hat sich ein Hakenkreuz angeheftet, was lebensgefährlich war, wenn man erwischt wurde als Jude das tragend, aber er hat es gewagt, er hat es in der Tasche gehabt, ist an die italienische Grenze gefahren, hat es sich dort angeheftet und dann haben die Leute, die Zollwächter, debattiert, ob sie ihn hineinlassen sollen: „Zeigen Sie uns Ihren Taufschein“ – „Hab ich doch nicht mitgebracht, ich bin Kunststudent und habe nur eine Woche Zeit“. Also, die haben sich beraten und einer hat endlich gesagt, lass ihn durch, und so ist er nach Italien gekommen. Andere sind nach Frankreich geflohen.
Kurz und gut, man stiebt nach allen Seiten aus, und wenn man Glück hatte, bekam man ein Visum. Wer Geld hatte, konnte es sich richten, wer keines hatte, blieb hier und ging zugrunde. Also, die Hälfte der Wiener Juden ist zugrunde gegangen, die anderen haben es irgendwie geschafft. Auf dem Judenplatz gibt es ein Denkmal, dort stehen alle Vernichtungslager, in denen die übrig gebliebenen Juden umgekommen sind. Die Filmemacherin Ruth Beckermann, deren Großmutter hat sich in eine „bag lady“ verwandelt, also eine Straßenbettlerin. Die ist mit einem Binkel in der Hand herumgezogen und hat gesagt, sie wäre taubstumm, und so hat sie diese Zeit überstanden. Also es gab Möglichkeiten zu überleben, aber die waren immer vom Zufall abhängig.

Jetzt noch zu Amerika: Gab es da jemals irgendwelche antisemitischen Aussagen?

Als ich in Amerika ankam, das war schon lange nach dem Krieg, also ich kam 1949 in die USA. Es gab einen massiven Antisemitismus in den USA. Es gab Viertel, wo die Juden nicht wohnen durften, Predigten von Beichtstühlen und was weiß ich, von wo aus, von der Kanzel aus, gegen die Juden. Und das hat sich ganz verflüchtigt, und da kann ich euch die Gründe angeben. Das sind soziologische Gründe, die man kennen muss. Der eine ist, dass die Amerikaner en masse den wirtschaftlichen Erfolg sehr schätzen und diese jüdische Minderheit hat sich ziemlich gut herausgearbeitet. Diese sweatshops von der Hesterstreet gibt es nicht mehr, sondern die Juden sind eine noch erkennbare, aber sich sehr verflüchtigende Minderheit. Soweit sie noch erkennbar sind, sind sie angesehen – mehr oder weniger. Zweitens, Israel ist gegründet worden, ein Staat. Die Menschen leben in einer nationalstaatlichen Welt, und wenn man einen Staat und einen Botschafter hat usw., dann gilt man mehr. Das Wichtigste aber ist die Bürgerrechtsbewegung: Die schwarzen Menschen haben aufgemuckt und eine Bewegung gegründet und haben eigentlich ja auch sehr große Erfolge gehabt. Im Augenblick hat man einen dunkelhäutigen Präsidenten, der es zwar nicht leicht hat, aber immerhin, nicht wahr, die Mehrheit des Landes hat für ihn gestimmt. Aber diese Bürgerrechte der Farbigen sozusagen mussten bitter erkämpft werden, mit großen Gewalttätigkeiten. Da gab es natürlich Martin Luther King und andere Führer. Aber von diesem Augenblick an hat sich die ganze Gehässigkeit der Rechten gegen die Neger gewendet und hat die Juden entlastet. Also, die Juden sind da noch verhältnismäßig akzeptabel, nicht wahr, lassen wir die in Ruhe, so nach diesem Schema. Und jetzt gibt es eigentlich kaum einen sichtbaren, aber einen „untersichtigen“ gibt es. Und es gibt kein christliches Land, wo es das nicht gibt. Jetzt ist der Antisemitenmarkt absurder Weise ein wenig in die muslimischen Länder verlagert. Aber die lesen dieselben antijüdischen Traktate, die auch die Nazis gebraucht haben. Kurz und gut, es ist alles ein weites Feld, wie Theodor Fontane gesagt hat, und wir haben heute versucht, die Oberfläche ein bisschen zu kratzen.

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